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Tavern of Memories – Herberg van het geheugen

Was passiert nach dem Tod eigentlich mit Erinnerungen an Kostbarkeiten? Was passiert nach dem Tod, wenn Erinnerungen Kostbarkeiten sind? Was passiert nach dem Tod, wenn diese auf Filmrollen eine ganze Lagerhalle ausfüllen? Tod – Der Filmemacher Kees Hin findet diesen Ausdruck komisch. Tod ist etwas abschließendes, das Ende vom Endlichen. Durch die Tür hinausgehen findet er besser. Man weiß ja nicht was auf der anderen Seite der Türe ist, warum dann nicht positiv sein?

Kees Hin (1936) drehte vor 50 Jahren seinen ersten Dokumentarfilm. In seinem Leben ist er zu einem der produktivsten Filmemacher der Niederlande geworden. Seine Filme zeichnen sich besonders aus, durch das fehlen einer klaren Trennlinie zwischen Dokumentation, Fiktion, Poetik und Theater. Im Zentrum seiner Werke: Menschen und Begegnungen. Soviel verrät der Klappentext.

Aber wer ist eigentlich Kees Hin? Diese Frage geht Barbara den Uyl nach, dokumentiert Kees, wie er durch sein Filmlager streift, hier und da eine Rolle hinaus nimmt, lächelt und murmelt das dies ein Schatz ist den nun wirklich niemand mehr wertschätzt.
Dabei erzählen die meisten von Ihnen vom Leben im Nachkriegsdeutschland und dessen Einfluss auf späterer Jahre in den Niederlanden. Schätze. Oder Magie wie Kees es nennt. Diese persönliche Sicht auf etwas Magischem möchte er gerne weitergeben. Ist er doch der Herbergsvater, der in einem seiner Filme die Geschichten seiner Gäste erzählt. Kees Gäste sind die Filme von denen er erzählen kann. Stolz steht er in seiner Herberge voll verlorenem Wissen. Sein Lebenswerk liegt regungslos vor ihm. Heute liegt sein Schatz in Vijfhuizen, bei EYE dem Nationalen Filmmuseum. Kees ist zu Tür hinausgegangen bevor der Film über ihn ein Publikum erreichen kann.

Regisseurin den Uyl hofft auf den Warsteiner Publikumspreis beim IFFR 2016. Am Sonntagabend ist er auf der Top 20 des Wettbewerbs nicht zu finden. Schade, ermutigt er doch zur kontroversen Diskussion über Film von Kees Hin. Ist das Kunst oder kann das weg? Bei Kees ist nichts weggekommen.

Der schönste Film, den ich nie sehen durfte

Lataren Venster, Zaal 05. Blind Cinema.

Ich sitze im Sessel, neben mir freie Plätze – Zumindest soweit ich mich erinnern kann.
Es ist dunkel. Sehr, sehr dunkel.
Während ich ein Plastikrohr fest an mein Ohr drücke, spüre ich wie ich mich durch eine Augenbinde hilflos fühle.
Vom anderen Ende des Rohres her flüstert eine kindliche Stimme. Für mich ein letzter Hoffnungsschimmer, auch wenn mir langsam bewusst wird, dass weder die Stimme noch ich vorher informiert wurden um was sich das dargebotene handelt.
Die dialoglose Tonspur aus den Lautsprechern klingt unnatürlich fern der Realität ohne dazugehöriger Bilder. Mein einziger Halt die immer stärker werdende Symbiose meiner bildlichen Vorstellung und den Beschreibungen die mir zugeflüstert wird. Wir werden eins. In den puristischen Beschreibungen von Formen und Farben mischen sich immer mehr Interpretationen. Zwei Männer in Regenjacken und Taschenlampe? Natürlich! Das müssen Diebe sein!

Kann ich die Stimme im Rohr noch von der meiner Gedanken unterscheiden? Ach ja, wie fühlen sich eigentlich Blinde auf einem Filmfestival?

Die Männer in Regenjacke zünden ein Feuerwerk an. Doch keine Diebe. Aber dafür kann ich jetzt die Pyrotechnik bewundern. Deutlich kann ich alles sehen. Wie schön das rot und gold im Himmel funkelt!

Mit dem Feuerwerk enden 45 Minuten Blindheit und bevor die Augenbinde gelüftet wird, sind die ca 30 Kinder im Saal zusammengelaufen. Verwunderlich ist, dass ich nicht mehr in der Lage bin die Stimme, die sich für das gesamte Screening in meinen Kopf befunden hat, wieder zu finden. Ein Stück gemeinsam erlebte, extrem Intensive Festivalerfahrung verfliegt.

Bleibt mir nur noch übrig eine Frage in die Gruppe zu rufen: „Wie war es für euch?“ „Großartig“ schallt es vielstimmig zurück.

„Das stimmt“,denke ich, „ihr wart großartig!“

Tiger Awards Competition for Short Films 1

Freitag, 16:45. Im Lantaren Venster beginnt endlich die Programmreihe, die uns viele schlaflose Nächte erwartungsvoller Vorfreude beschert hat: Es ist Zeit für den Ersten Teil der Tiger Awards Competition for Short Films.
79 minuten Material gezeigt in drei Filmen. Das Screening beginnt mit „Nhung lá thu Panduranga“, angekündigt als meditative Darstellung über die Omnipräsenz von Geschichte. Auf die Leinwand gebracht durch eine dokumentarisch anmutende, bildliche Beschreibung des Wandels Vietnams. Beispielsweise die der Konvertierung eines spirituellen Heiligtums der einheimischen Chams zu Vietnams erstem Atomkraftwerk.
Ein wichtiger Schritt progressiven Strukturwandels bei dem nicht alle Gewinnen. Im Stil einer Reportage zieht Regisseur Nguyen Trinh Thi ein bedrückendes Fazit aus der altbekannten Thematik von Traditionen vs. Fortschritt .

Etwas aufsehensheischender; Film nummer 2: Engram of Returning. Schöpfer Daïchi Saïto sitzt im Publikum.
Das als episches und metaphysisches Reiselogbuch angekündigte Werk schafft es nicht, alle Zuschauer 19 minuten lang im Saal zu halten. Die jedoch, die sitzen bleiben, erleben eine fantastische Traumreise unterlegt mit feinster Kakophonie eines Tenor Saxophons, dass auf eine Snaredrum bläst. Ein Flickerstreifen, zusammengestellt aus erworbenem Footage, repräsentiert Schlüsseljahre in Saïtos Leben. Ein Leben, in dem das Medium Film nicht immer im Zentrum stand und somit Einblicke gewährt in eine gefühlsvolle Welt von Erinnerungen. Chapeau Herr Saïto – das Publikum ist verstört. Zumindest Teile unserer Gruppe haben Sie begeistert!

Der dritte und letzte Akt der Vorführung brachte uns dann wieder in Einklang mit dem Rest des Publikums. Filmemacher Nazli Dincel sperrt auf ästhetischer 16mm-Rolle einen Dreiteiler der so manchen Konservativen aufstoßen könnte. In dem Stück, das den tiefsinnigen Namen Solitary Acts trägt flimmernd Sätze wie: „She was 9, 10, 11, 12, 13 – she lost her virginity through a carrot – and afterwards she ate it – and herself.“ Als bildliche Hintermalung ist eine Hand zu sehen, die zu brüchig goldlackierten Fingernägeln gehört und die anwesenden Zuschauern mastrubierend in Atem hält. Close up – lange, und gefühlt längere Minuten fokussiert auf ein erregtes weibliches Geschlechtsteil.

Szenenwechsel. Brüchig goldlakierte Fingernägel gehören nun zu einer männlichen Hand. Das erregte weibliche Geschlechtsteil wird abgelöst durch ein männliches. Zwischen erotischer Selbsterfahrung und Perversion: Vor uns spielt sich die mit den Mastrubierern dieser Welt solidarisierte Hinterfragung des Mediums Film ab. Mit Traditionen der Porno-Industrie wird genauso gebrochen wie mit der romantischen Vorstellung Rosamunde Pilchers. Erwachsenwerden ist nicht leicht. Unsere schemenhaft beschriebene Protagonisten erlebt nicht nur die Freuden von Gemüse, sondern auch eine Abtreibung resultierend aus einer gescheiterten Beziehung im Erwachsenenalter.

 

Das Licht geht an – wir sehen uns um. Tiger Awards Competition 1/6: Eine experementielle Achterbahnfahrt bei der nicht alle Fahrgäste das Ende erreicht haben. Input zu kontroversen Diskussionen. Zur Genüge.

 

Mehr zum Film solitary acts (Interview mit der Filmemacherin): https://iffr.com/en/professionals/blog/please-welcome-nazli-din%C3%A7el